Laut werden - und im Notfall zutreten
Laut werden - und im Notfall zutreten
Dienstag, 9. Dezember 2008
Von Yvonne Weirauch Hartnäckig wird gegen den Handschuh geboxt, verbissen gegen die Matte an der Wand getreten, drohend wird der Arm erhoben – das ist kein Ausschnitt aus einem Krimi, sondern ein Einblick in einen Selbstbehauptungskurs für Senioren. Seit Jahren werden diese Kurse von der Polizeidirektion Esslingen angeboten. Durchgeführt werden diese von erfahrenen Trainern, die mit der Polizei in einem Arbeitskreis eng zusammenarbeiten.
Rolf Kersten ist einer dieser Trainer und leitet seit gut einem Jahr Selbstbehauptungskurse in der KSV Arena. Heute ist es wieder soweit. Etwa 15 Seniorinnen und Senioren haben sich eingefunden, um unangenehme Alltagssituationen besser bewältigen zu können. Der 67-jährige Trainer weiß, worauf es ankommt und versucht den Teilnehmerinnen und Teilnehmern so einfach wie möglich ein paar Tipps zur Sicherhit zu geben: „Ich will nicht, dass Sie bei den Übungen heute Leistungssportler werden.“ Leichte Abwehrstrategien stehen auf dem Programm: Wie verhalte ich mich bei einem Taschenraub? Wie reagiere ich auf Pöbeleien, wo laufe ich hin? Wann darf ich treten oder schlagen, ohne rechtlich belangt zu werden? Solche und ähnliche Fragen kennt Polizist Klaus Holzmann nur zu gut. Auch er ist im Trainingsraum anwesend und steht Rede und Antwort. „Oft herrscht ein unbegründetes Unsicherheitsgefühl bei den Senioren“, sagt Holzmann. Laut Statistik werden allerdings Jugendliche häufiger Opfer von Straftaten als ältere Menschen. Dennoch – mehr Ängste, beispielsweise abends auf die Straße zu gehen, liegen bei den Rentnerinnen und Rentnern.
„Durch den Kurs sollen die Ängste abgebaut und das Selbstvertrauen gestärkt werden“, sagt Holzmann. Bevor die eigentlichen Abwehrstrategien praxisnah geübt werden, stellen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Halbkreis auf, um sich warm zu machen. Für den Vormittag hat er geplant, Tipps zu geben, wie man einen Angreifer mit verbaler Körpersprache abwehrt: „Werden Sie laut, machen Sie auf sich aufmerksam“, immer wieder sagt Kersten diesen Satz. Oft habe sich gezeigt, dass der Täter von einem ablasse, wenn die verbalen Worte nur laut und ernst genug geäußert werden. Durch das laut sein werden Zeugen aufmerksam. Sie könnten helfen oder die Polizei verständigen. „Gehen Sie aus sich raus. Schreien Sie“, weist der Trainer erneut an. Das wird geprobt: „Was soll das? Lassen Sie mich in Ruhe“, hallt es durch den Trainingsraum. Manche halten sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Ungewohnt scheint es, auf einmal laut zu werden, sich verbal zu wehren.
„Was mache ich aber, wenn ich an einer einsamen Haltestelle stehe und von einer ganzen Gruppe angepöbelt werde?“, skeptische Äußerungen kommen aus den Reihen, die reale Situationen schildern. „Nicht provozieren lassen und weggehen. Manchmal ist es für uns Senioren besser, als Feigling dazustehen“, antwortet Rolf Kersten. Oft müsse man nach dem Motto „durch Nachgeben Siegen“ handeln. „Ich bin erst neulich in so eine Situation geraten“, erzählt Erika Viefhaus. Die 70-Jährige stand an einer Haltestelle. „Halbwüchsige kamen auf mich zu und haben einfach vor mich hin gespuckt. Sie wollten mich provozieren.“ Sauer sei sie gewesen, wütend geworden, aber gemacht habe sie nichts. „Was soll man in so einer Situation auch machen?“ Leise Verzweiflung klingt in ihrer Stimme mit. Eine Verzweiflung, die Klaus Holzmann verstehen kann. „Aus dem Weg gehen, ist hierbei meist die ratsamste Lösung. Lieber beleidigen lassen, als körperliche Schädigung zulassen.“ Sonja Wörtmann sei „Gott sei Dank noch nie in einer gefährlichen Situation gewesen“, erzählt sie. Aber dennoch hat die 63-Jährige manchmal ein mulmiges Gefühl, wenn sie „über Überfälle auf Senioren in der Zeitung liest“.
Keine Angst zeigen – manchmal ist das leichter gesagt als getan. Das weiß auch Rolf Kersten. „Wir probieren es mit einer praktischen Übung“, fordert der Trainer seine Schützlinge auf. Dabei geht es darum, den Angreifer leicht abzuwehren und sich selbst gekonnt wegzudrehen. „Die schnelle Abwehrreaktionen ist schon der erste Sieg.“ Manchmal sehe man genau, wer ein bisschen Koordinationsschwierigkeiten hat oder wer aktiv im Sport ist, so der Trainer: „Aber alles lässt sich üben.“
Wenn in einer Notsituation verbale Äußerungen nicht mehr helfen, dann, so sagen Trainer Rolf Kersten und Polizist Klaus Holzmann, dann darf man sich auch körperlich wehren: „Der erste Schlag oder Tritt muss sitzen. Das ist bei uns Ältern Voraussetzung.“ Männer und Frauen stehen sich gegenüber. Der Unterschied werde schon beim Üben deutlich, beobachtet Polizist Holzmann: Männer greifen stärker an, Frauen zeigen sich dagegen eher zaghaft, haben Angst bei den Übungen ihren Gegenüber zu verletzen.
Eine weitere Alltagssituation wird gestellt: Ein Dieb reißt einer Rentnerin die Tasche aus der Hand. „Viele gehen oft sorglos mit ihrem Geldbeutel oder mit ihrer Handtasche um. Es gilt allerdings: Ihre Gesundheit ist wichtiger als der Verlust der Tasche“, rät Kersten. Ausschlaggebend sei auch hier: Laut werden. Auf Körperstellen, an denen es besonders weh tut, weist Kersten hin: „Der Tritt ans Schienbein oder auf den Fussspann des Angreifers verursacht starke Schmerzen.“ Rolf Kersten macht einige Beinbewegungen. Der Ernst bei der Sache ist gewiss, der Spaß kommt aber nicht zu kurz „Stellen Sie sich vor, Sie als Frau haben einen schönen Absatz. Was meinen Sie, wie das Ihrem Angreifer weh tut?!“