Nachbarhilfe entdecken
Nachbarhilfe entdecken
Von Harald Flößer - Eßlinger Zeitung vom 25.2.2008 - Kein Fußballer käme auf die Idee, trotz erster Treffer schon zur Halbzeit eines Spiels zu feiern. In diesem Fall ist allein die erste Hälfte als Gewinn zu verbuchen: Mit ihrer Demenz-Kampagne hat es die Stadt Ostfildern geschafft, ein Thema ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, das, zumeist aus Unkenntnis, mit vielen Ängsten behaftet ist. Seit Oktober spricht und informiert man in Ostfildern und weit darüber hinaus über die sich immer stärker ausbreitende Krankheit, macht Angehörigen Mut und zeigt, wie ein würdevoller Umgang mit Demenzkranken möglich ist. Vor der zweiten Hälfte der in dieser Form wohl einmaligen Kampagne war deshalb am Freitagabend zurecht Feiern angesagt. 140 Gäste ließen sich das vom Samariterstift Ruit lecker zubereitete, von Stadtbediensteten servierte und von Georg Dietls Piano-Musik begleitete Menü schmecken. Und sie nahmen eine wichtige Erkenntnis mit nach Hause: Nichts trägt bei Schicksalsschlägen wie Demenz besser als mitsorgende und mithelfende Nachbarn.
Um diese Botschaft zu vermitteln, hatte das Organisationsteam um Gabriele Beck und Klaus Dörner eingeladen, den Autor des Bestsellers „Leben und sterben, wo ich hingehöre“ und einen der profiliertesten Vertreter der deutschen Sozialpsychiatrie. Der frühere Ärztliche Leiter der Westfälischen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie in Gütersloh hielt ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, sich angesichts des völlig überforderten Systems der stationären professionellen Pflege wieder der nachbarschaftlichen Hilfe zu besinnen. Nach Dörners Beobachtung hat bereits in den 80er Jahren ein hoffnungsvoller kultureller Wandel eingesetzt. „Wir haben angefangen, uns wieder mehr für andere zu engagieren“, sagt Dörner. Zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich habe man die Nachbarschaft als „dritten Sozialraum“ und als neues Hilfsnetz wiederentdeckt. Potenzial gebe es genügend, denn die Menschen hätten zum einen genügend Freizeit, zum anderen tue es jedem gut, „soziale Bedeutsamkeit für andere Menschen“ zu spüren. In einem unterhaltsamen Gespräch mit Inge Hafner, der Altenhilfe-Fachberaterin des Esslinger Landratsamtes, lobte Dörner die Demenz-Kampagne der Stadt Ostfildern. Und er ermunterte OB Christof Bolay, mit zwei weiteren Initiativen sogar bundesweit Vorreiter zu werden. Die Stadt soll ein Amt für Nachbarschaft gründen und in Eigeninitiative ambulante Wohnpflegegruppen schaffen, um den Bürgern zu zeigen, dass auch Pflegebedürftige nicht auf das vertraute Umfeld verzichten müssen.
Dass es für die von Klaus Dörner propagierte bürgerorientierte Altenhilfe schon gute Ansätze gibt, wurde bei einer von Inge Hafner moderierten Talkrunde deutlich. Sonja Wörtmann berichtete von den „Altenknüpfern“, einer von elf Frauen und Männern über 60 Jahren gegründeten Gruppe, die im Scharnhauser Park vorlebt, wie man sich unter Nachbarn ein hilfreiches Netzwerk schafft und dabei eine gesunde Balance zwischen Nähe und Distanz pflegt. Annegret Grüninger hat die Erkrankung ihres Mannes zum Anlass genommen, sich im Vorstand der Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg zu engagieren. Sie erzählte, wie schwer es für die Familie, aber auch für die Nachbarn war, mit der lange nicht diagnostizierten Krankheit umzugehen. „Ist das wie BSE?“, sei sie einmal von einer Nachbarin gefragt worden. „Das haut einen erst einmal um.“ Sie habe die Krankheit ihres Mannes aber nie versteckt.
„Man muss sich Entlastung holen. Das ist keine Schande“, riet Margarete Vogel den Angehörigen von Demenz-Kranken. Sie hat sie für ihre kranke Mutter gefunden in der Tagespflege im Ruiter Gradmannhaus. Eine negative Begleiterscheinung der schwierigen familiären Situation wollte sie nicht verheimlichen: Seit die demenzkranke Mutter bei ihr lebt, sei der Freundeskreis kleiner geworden. Dass der Umgang mit altersverwirrten Menschen ein persönlicher Gewinn sein kann, zeigt das Beispiel von Barbara Fries. Die Menschen seien ausgesprochen dankbar, wenn sie ernst genommen werden und wenn es gelingt, bei ihnen Erinnerungen an frühere Zeiten zu wecken, erzählte sie von ihrer Arbeit beim Besuchsdienst.
Wohnen und Leben alter und hilfsbedürftiger Menschen zu unterstützen ist auch das zentrale Ziel der Gradmannstiftung. Deshalb unterstütze die Stiftung auch die Demenz-Kampagne der Stadt, sagt Vorstand und Alt-OB Herbert Rösch. Das sei ganz im Sinne der früher in der Parksiedlung lebenden Liselotte Gradmann.
Halbzeit der Demenz-Kampagne gefeiert
In einer Talkrunde diskutierten Sonja Wörtmann von den „Altenknüpfern“, Barbara Fries, Moderatorin Inge Hfner, Margarethe Vogel, Annegret Grüninger und Herbert Rösch (von links) über Möglichkeiten, wie sich Seniorinnen und Senioren in ihrer Umgebung ein hilfreiches Netzwerk schaffen können